Nachwuchs als Einkommensquelle

Essay

Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn

Zum Seitenende      Übersicht aktuelles      Home & Impressum

Wer die Hartz IV-Armut von 40 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Bremerhaven oder von 37 Prozent aller Kinder Berlins oder von einem Sechstel der Kinder Deutschlands in Zweifel zieht, weil die doch entschieden mehr hätten als ihre Altersgenossen in Uganda und Bangladesch, wird zu Recht als Zyniker in die Schranken gewiesen. Gewiss geht es den Sozialgeld-II-Jugendlichen besser als 90 Prozent aller Kinder in 90 Prozent der Weltgeschichte. Aber die Transferbezieher können ja nicht einfach in die Dritte Welt abwandern, um sich mit unseren Mitteln aus relativ Armen hier in relativ Reiche dort zu verwandeln.

Wer jedoch aus der Dritten Welt nach Bremerhaven oder Neukölln schaut, vergleicht seine aktuelle Lage mit den Transfereinkommen von Landsleuten, die dort bereits angekommen sind. Diese mehr als zehn Millionen seit 1990 – zu 90 Prozent Abgeschlagene und Schulversager ihrer Herkunftsgebiete – wiederum vergleichen die neue Lage mit dem Elend in der alten Heimat. Kann man ihnen übel nehmen, dass sie erst einmal ihr Glück fassen müssen, bevor Zeit bleibt für das Einstimmen in Klagen über Deutschlands „lähmende Kinderarmut“?

Die Neubürger und die ihren Spuren Folgenden betrachten Hartz-IV also nicht so sehr als karge Strafkolonie, aus der man nur schwer wieder heraus kommt, sondern als einen Archipel mit staunenswertem Versorgungsniveau. Keiner kann einen wegjagen, solange man sein Aufenthaltsrecht nicht etwa dadurch verspielt, dass man kinderlos bleibt und dann für jede Arbeit zur Verfügung stehen muss. Wo also der Außenblick sich ungeachtet ständig wachsender Budgets über immer mehr Armut entsetzt, sieht der Innenblick eine beschützte Insel, die gerade wegen der dauernd steigenden Summen immer mehr Menschen für den Rest ihres Lebens vor absoluter Not bewahren kann.

Während die statistische Mutter 1,4 und die ethnodeutsche sogar nur 1,2 Kinder hat, leben 2007 im Hartz-IV-Archipel 492.000 Bedarfsgemeinschaften, die mit zwei, drei, vier oder mehr Kindern weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen. Im Jahre 2005 finanziert der Steuerzahler erst 421.000 dieser kinderreichen Einheiten. Ihre Zunahme um 17 Prozent in nur zwei Jahren zeigt, dass diejenigen Bewohner des Archipels, für die er rettendes Neuland ist, seine Regeln umgehend beherzigen. Der Archipel schafft also auch ohne das Abrutschen weiterer ALG-I-Bezieher in die Hartz-IV–Welt stattliche Zuwächse durch robuste Eigenvermehrung. Im März 2007 beherbergt er 7.117.398 Menschen – so viele wie in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zusammen wohnen. Der Arbeitsmarkt mit seiner schnell steigenden Zahl unbesetzbarer Stellen und der Hartz-IV-Archipel schotten sich immer fester voneinander ab. Und doch berühren sie sich auf unheimliche Weise. Der eine Bereich wächst, weil Qualifizierte im Durchschnitt älter und weniger werden, der andere, weil die Unqualifizierten immer jünger und mehr werden.

Der Bundesregierung allerdings reichte diese Vermehrung noch nicht aus. Deshalb hat sie dafür gesorgt, dass seit dem 1. Januar 2007 auch eine bereits im Archipel versorgte Transfermutter zusätzlich zum laufenden Unterhalt für sich und die bisher geborenen Kinder ein Elterngeld von 300 Euro monatlich für zusätzliche Kinder erhält. Vielen Zeitgenossen aber ist das nicht genug, weil eine gut verdienende Frau, die jetzt die Steuern abliefert, immerhin bis zu 1800 Euro Elterngeld monatlich erhalten kann. Obendrein stelle sie in der Bezugszeit ihre Zahlungen für die Schwestern im Archipel einfach ein. Hier wird eine sozial unerträgliche Schieflage gesehen, in der den „Reichen“ wieder einmal mehr gegeben wird als den wirklich Bedürftigen.

Gleichwohl sieht man, dass innerhalb des Archipels selbst die 300 zusätzlichen Euro als gänzlich unerwartete Einkommenssteigerung begrüßt werden. Wie bei einem Wunder werden anfangs die neu geschaffenen Berechtigungen für die nächsten Babys ein wenig zögerlich in Anspruch genommen. Wie ein Lauffeuer aber verbreitet sich dann, dass die Gelder wirklich fließen. Die liebenswerten Frauen im Archipel danken es mit Zuwächsen bei der Vermehrung, die von den Karrierefrauen erst einmal zu toppen wären.

Hat die Bundesregierung den demographischen Stein der Weisen gefunden, weil sie den „Tod“ der sich selbst versorgenden Familie ausgleicht durch eine Explosion der kinderreichen Bedarfsgemeinschaften? Rein quantitativ mag sie an französische Verhältnisse mit schon knapp zwei Kindern pro Frau herankommen. Sie könnte das Erreichen der Nettoreproduktion von 2,1 Kindern sogar noch beschleunigen, wenn sie - wie jenseits des Rheins - auch polygamen Vätern mit ihren stolzen Kinderscharen staatliche Überweisungen zusichert.

Wie gut wird das ausgehen? Auf dem Wege Frankreichs und Deutschlands hat sich auch Amerika befunden – allerdings nur bis 1996. Gibt es aus der großen Demokratie Lehren für Kontinentaleuropa? Ganz erstaunliche. Sie schreitet nämlich zur radikalsten Sozialreform der neuzeitlichen Geschichte, um vom Heilsweg à la Paris und Berlin gerade wieder wegzukommen. Warum? 1996 leben 4,6 Prozent aller Amerikaner von Sozialhilfe (12,2 Millionen von 263 Millionen Einwohnern). 2007 befinden sich im bundesdeutschen Hartz-IV-Archipel 8,7 Prozent aller Einwohner. Bis 1996 gilt auch in den USA, dass Unterschichtfrauen nur über neue Babys dem Arbeitsmarkt ausweichen können. Deshalb stellen die Welfare-Familien bei knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung fast zehn Prozent des Nachwuchses. Dessen männlicher Teil nun verübt fast fünfzig Prozent der jugendlichen Gewaltkriminalität. Diese Lage wird als schwerste Gefahr für Amerikas Zukunft identifiziert. Um ihrer Herr zu werden - und auch weil nur die Linke diesen Schritt tun kann -, verkündet Bill Clinton im Wahlkampf von 1992: „Wir machen Schluss mit der Sozialhilfe, wie wir sie kennen [we end welfare as we know it]. Wir sagen zu den Hilfeempfängern: Ihr habt und ihr verdient die Möglichkeit, euch durch Ausbildung, Erziehung, medizinische Versorgung und öffentliche Kindererziehung zu befreien. Dann aber, soweit ihr dazu fähig seid, müsst ihr arbeiten. Denn Sozialhilfe dient als zweite Chance. Sie darf niemals zu einem Lebensstil werden.“

Seit dem 1. Januar 1997 kann eine amerikanische Frau nicht mehr ein ganzes Leben lang auf die Mitbürger rechnen, sondern maximal – auf Wunsch, aber auch gestückelt – nur noch fünf Jahre. Damit will man auf höchstens zwei Kinder in den Ghettos herunter. Sozialpolitiker der linken Clinton-Administration treten empört zurück. Armut sei farbig, weiblich und kindlich und sie könnten nicht ertragen, diese „hilflosesten“ Mitglieder der Gesellschaft so erbarmungslos geschunden zu sehen. Zu ihrer eigenen Überraschung erweisen gerade sie sich als Rassisten. Denn die meisten schwarzen Mädchen, die bis dahin mit 13 Jahren schwanger werden, um als vierzehnjährige Mutter von Uncle Sam zu leben, sind keineswegs begriffsstutzig und hilflos. Umgehend verhüten sie und suchen Arbeit. Heute liegt die Kinderzahl pro Afro-Amerikanerin mit 2,0 (in Kalifornien 1,7) nur knapp über den 1,84 der US-Whites. Im Jahre 2005 leben unter nunmehr 298 Millionen Einwohnern nicht mehr 4,6, sondern nur noch 1,5 Prozent auf Sozialhilfe (4,5 Millionen Menschen) – ein Rückgang um 67 Prozent in acht Jahren.

Der von Clinton verstellte, von Deutschland und Frankreich dagegen noch einmal erleichterte Lebensweg bringt einer Nation zwar Nachwuchs, aber nicht die benötigten Qualifikationen. Eine Art „Karriere“ gibt es allein für die Töchter der staatlich Versorgten. Ihre Brüder bleiben genau so bildungsfern wie die Mädchen, können aber nicht durch multiple Vaterschaften in lebenslange Versorgung gelangen. Sie werden kräftig und anspruchsvoll. Reputierliche Karrieren jedoch schaffen sie nicht. Sie verdienen nicht einmal die Steuern, aus denen ihre Schwestern mit der nächsten Generation sozialhilfeabhängiger Sprößlinge bezahlt werden könnten. Und doch wollen auch die Hartz-Jünglinge alles haben. Frankreich, das – wie Deutschland – für ein drittes Kind mehr zahlt als für ein erstes und für ein fünftes mehr als für ein zweites, gerät auch deshalb mit seinen schwer vermittelbaren Söhnen regelmäßig in Scharmützel, die den Ghettokämpfen der USA im 20. Jahrhundert so auffällig ähneln.

Nun wissen wir auch ohne Blick in das Amerika von gestern, dass sechzig Prozent der Kinder unserer Migranten (19 Prozent bzw. 15 Millionen von 82 Millionen Einwohnern) bestenfalls Sonder- und Hauptschulabschlüsse schaffen. Unter den 25 Prozent aktuellen Schulversagern an Deutschlands rarem Nachwuchs stellen sie den Löwenanteil. Da bereits 35 von 100 Babys im Migrationssektor und dabei zumeist innerhalb des Archipels geboren werden, kann nicht überraschen, dass Deutschland das erste Land der jüngere Geschichte ist, in dem die Generation unter 25 Jahren schlechtere Bildungsabschlüsse hinlegt als die älteren Jahrgänge. Die stetige Verbesserung des Qualifizierungsniveaus als entscheidende Bedingung für das Verbleiben in der Weltkonkurrenz gelingt nicht mehr – vielleicht der alarmierendste Befund der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Die Bundesrepublik kann die amerikanischen Ghettoerfahrungen aber nicht nur beim Absacken der Schulleistungen bestätigen. Auch bei der Gewalt kann sie durch ihr eigenes Megaexperiment den Beweis erbringen, dass Clinton Recht hatte. So leben von 100 Jungen Bremerhavens über vierzig im Archipel. Die aber schaffen souveräne neunzig Prozent der Jugendkriminalität.

Amerika hat bei gut fünf Prozent Sozialhilfekindern Ende der 1970er Jahre die Debatte um die Grundlagen seiner Zukunft begonnen. Charles Murray hat sie 1984 mit seinem Buch Den Boden unter den Füßen verlieren (Losing Ground) erschöpfend zusammengefasst. 1996 hat man bei zehn Prozent Sozialhilfekindern die Notbremse gezogen. Deutschland steht 2007 bei fünfzehn Prozent, die überwiegend als finanziell heilbares Armutsproblem eingeschätzt werden. Ob die Debatte wenigstens bei zwanzig Prozent an Ernst gewinnt, damit dann bei vierzig Prozent gehandelt werden kann? Daran darf nur glauben, wer übersieht, dass unsere beiden Mustergemeinden an Weser und Spree diese 40 Prozent längst überschritten haben und doch kaum jemanden wirklich nervös machen.

(am 24. Mai 2007 stark gekürzt im Tagesspiegel und – ausführlicher – in der Welt)

Ich danke Herrn Prof. Heinsohn für die Abdruckerlaubnis und die freundliche Überlassung des ungekürzten Manuskripts.

Zum Anfang      Übersicht aktuelles      Home & Impressum

Viewable With Any Browser Valid HTML 4.01! Valid CSS!