Covid-19 — Was tun wir eigentlich gerade?

2020-03-28

Was bezwecken wir damit, was bewirkt es und wie geht es weiter?

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Bei ansteckenden Krankheiten gibt es grundsätzlich zwei sehr verschiedene Möglichkeiten. Die eine ist, sie so wirksam zu bekämpfen, daß sie fast oder ganz verschwinden. Bei Pocken, Kinderlähmung, Ebola und Aids ist genau das mehr oder weniger gut gelungen. Für den Normalbürger ist es, außerhalb bestimmter Gruppen oder Regionen, so gut wie oder ganz unmöglich, sich damit anzustecken. Niemand ist gegen diese Krankheiten immun und braucht es auch nicht zu sein.[1]

Die zweite Art von Krankheiten sind die endemischen. Sehr viele haben sie irgendwann einmal gehabt und sind ganz oder teilweise immun geworden. Fast jedes Jahr geht eine neue Welle um, trifft aber immer nur eine begrenzte Zahl aller Menschen. Das sind unsere Kinder- und normalen Infektionskrankheiten. Auch an ihnen sterben jedes Jahr nicht wenige Menschen aber das Gesundheitssystem ist auf die Zahlen vorbereitet, kann alle betreuen und, soweit überhaupt möglich, behandeln.

Wir haben jetzt eine neue Krankheit, die (noch) nicht endemisch geworden ist und gegen die keiner eine Immunität besitzt. Ungebremst kann ihre Welle in Köln auf hunderttausende von gleichzeitig Erkrankten anwachsen und das überfordert uns alle. Ein großer Teil würde dann völlig unbehandelt bleiben müssen. Das ist der Fall, den wir mit aller Kraft vermeiden müssen.

Bevor wir uns die Mittel ansehen, müssen wir uns über das Ziel klar sein. Das eine Ziel ist jede weitere Ansteckung und jede Ausbreitung einfach komplett zu vermeiden. Das ist leicht gesagt und schwer zu erreichen. Ich kenne derzeit nicht einen einzigen Fachmann, der das auch nur für möglich, viel weniger für wahrscheinlich hält. Alle, ohne eine einzige mir bekannte Ausnahme, erwarten am Ende der derzeitigen Welle einen Anteil von 60 bis 80 Prozent, die die Ansteckung irgendwann gehabt haben. Das sind für Köln 600 000 bis 800 000 Menschen.[2]

Mit anderen Worten, es gehen alle davon aus, daß auch diese Krankheit auf lange Sicht bei uns heimisch, endemisch wird. Irgendwann ist sie dann eine von vielen, die uns keine besonderen Sorgen machen. Was bedeutet das konkret? Jedes Jahr werden in Köln etwa 12 000 Menschen geboren und sterben. Wenn von all denen die Hälfte (50 %) diese Krankheit einmal im Leben durchmachen, wie so viele andere Kinderkrankheiten[3] auch dann heißt das: In weiterer Zukunft stecken sich jedes Jahr im Mittel 6000 Menschen mit Covid-19 an, das sind jeden Tag 17.[4] Wenn die Infektion 14 Tage anhält sind das also dauerhaft, jahraus, jahrein immer um die 250 gleichzeitig Erkrankte in Köln. Natürlich gibt es bei allen Krankheiten Wellen und jahreszeitliche Schwankungen, aber nichts, was eine Stadt wie Köln in Bedrängnis brächte.

Diesen Endzustand haben wir nicht. Die aktuellen, sehr einschneidenden Maßnahmen scheinen die Zahl der diagnostizierten, in Quarantäne befindlichen und noch nicht wieder entlassenen Patienten auf rund tausend zu stabilisieren. Das ist das Vierfache der obengenannten Zahl. Damit dauerte es also ein Viertel Lebensalter, um den Endzustand zu erreichen. Das sind zwanzig Jahre, von denen mindestens die ersten fünf unsere jetzt aktuellen Maßnahmen in voller Höhe beibehalten werden müßten. Das scheint mir vollkommen irreal. Diese Maßnahmen sind auf Eindämmung ausgerichtet, auf das völlige Unterdrücken der Krankheit. Kein Fachmann hält das derzeit für möglich. Es sind also die falschen Maßnahmen mit dem falschen Ziel.

Was ist das richtige Ziel? Wenn wir davon ausgehen, daß ein großer Teil aller Kölner die Infektion in nächster Zeit unvermeidlich irgendwann bekommen wird, dann müssen wir das zu unserer Richtschnur machen. Derzeit gibt es in ganz Köln insgesamt 53 Krankenhauspatienten mit Covid-19. Das ist lächerlich. Das ist eine grobe Verschwendung und Mißbrauch unserer Möglichkeiten. Wir müssen so viele Patienten haben, wie unsere Krankenhäuser bewältigen könnnen, aber nicht mehr. Auf dieses Ziel müssen unsere Maßnahmen hinsteuern. Sie dürfen also nicht zu früh einsetzen und müssen bei Bedarf scharf angezogen werden. Weil alle Eingriffe verzögert wirken, ist das bei unbegrenzter Verdoppelung alle drei Tage – die wir derzeit nicht haben – ungefähr zwei Wochen vor dem Limit oder bei Erreichen von einem Achtel der Kapazitätsgrenze der Fall.

Aber ist das nicht zynisch, bewußt und absichtlich die Ansteckung zahlreicher Menschen anzustreben, von denen viele schwer erkranken und etliche sogar sterben? Ja und nein. Es wäre zynisch, wenn wir ernsthaft glaubten, diese Ansteckungen vermeiden zu können. Alle Fachleute sagen aber heute ausnahmslos das Gegenteil. Vermeiden können wir nichts. Dann ist unsere Aufgabe eine andere, nämlich die, den zeitlichen Verlauf so zu steuern, daß alle Angesteckten und alle Erkrankten angemessen behandelt werden können. Genau das tun wir derzeit nicht. Der vorsätzlich provozierte Wirtschaftszusammenbruch wird unvermeidlich irgendwann das Gesundheitheitssytem, alle seine Zulieferer und alle, die indirekt mit daranhängen, auch mitreißen. Möglicherweise tritt das genau dann ein, wenn die Welle ihren Höhepunkt erreicht und wir es am dringensten brauchen.

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1

Die ältesten unter uns haben in den Sechzigern noch eine Pockenimpfung erhalten.     Zurück

2

Ich werde im folgenden konsequent immer über Köln sprechen. Zum einen deshalb, weil eine solche Größenordnung für uns vorstellbar und verständlich ist, und zum anderen, weil mir für Köln konkrete aktuelle Zahlen vorliegen.     Zurück

3

Sie heißen aus zwei Gründen so. Einmal sind es vor allem die Kinder, die sie noch nie hatten und sich deshalb anstecken. Zum anderen verlaufen sie bei Kindern meist leicht, können aber für die, die sie erst im Alter bekommen, gefährlich sein. Da paßt unser Covid-19 nahtlos ins Gesamtbild hinein.     Zurück

4

Alle Zahlen in diesem Text sind ungenaue Schätzungen. Sie sind dehalb hier ausnahmslos gerundet. Ich hätte oben auch 20 schreiben können statt 17.     Zurück